Kritik
Gerard Houllard
Thema dieser Abhandlung ist die bildhafte Repräsentation von Architektur als mediale Darstellung. Es soll versucht werden, einige Aspekte der Bedeutung und Wirkung des Bildes von Architektur aufzuzeigen, in Abgrenzung zu ihrer eigentlichen Ausdrucksform als dreidimensionales materielles Objekt. Die Fokussierung auf die Rezeption von Architektur durch Bilder hat eine gewisse Berechtigung, da die visuelle und bildhafte Repräsentation zum dominanten Modus der Verbreitung von Architektur geworden zu sein scheint; so prägt sie auch den Diskurs innerhalb der Bildwissenschaften. […]
IV. Der Fall Cardillo
Der römische Gelehrte Plinius berichtet von den beiden antiken Malern Zeuxis und Parrhasios, die sich einen Wettstreit in der Malerei lieferten. Zeuxis hatte demnach ein Bild mit Trauben gemalt, die so täuschend dargestellt waren, dass Vögel angeflogen kamen um sie zu fressen, da sie sie für echt hielten. Parrhasios zeigte daraufhin dem Rivalen sein Bild, ein illusionistisches Meisterwerk. Denn als Zeuxis hinter einem vermeintlichen Vorhang das Werk des Parrhasios vermutete und diesen aufheben wollte, erkannte er, dass der Vorhang gemalt war. Parrhasios hatte „nicht nur unvernünftiges Getier, sondern einen Künstler und Kenner zu täuschen vermocht.“
Mit genau jener überzeugenden und verführenden Kraft von Bildern startete der junge italienische Architekt Antonino Cardillo (geb. 1975) seine Karriere. Vor vier Jahren kürte das Architekturmagazin Wallpaper* Cardillo als einen der dreißig wichtigsten jungen Architekten weltweit. In der Folge publizierten auch andere wichtige Architekturzeitschriften wie build oder H.O.M.E. Cardillos Entwürfe. Entscheidend für diese Veröffentlichungen war die Tatsache, dass Cardillo die Redakteure glauben ließ, dass alle diese Bauten tatsächlich existierten. In Wahrheit handelte es sich jedoch um perfekte Computersimulationen von Entwürfen, von denen keiner je realisiert wurde. Cardillo schuf bewusst Computerbilder, deren digitaler fiktionaler Charakter auch von Experten offenbar nicht als solcher erkannt werden konnte, wie jenes des House of Convexities, das nie gebaut wurde.
Der Fall, über den 2012 im deutschen Wochenmagazin Der Spiegel ein Artikel erschien, belegt deutlich die Aktualität und Brisanz der Verwendung digitaler Bilder im Bereich der Architektur. Die Produktion solcher Bilder ist spätestens seit den 1990er Jahren in Architektur, Design und Ingenieurswesen üblich und als Simulation der Wirklichkeit weit verbreitet.
In den letzten Jahren hat sich die Technologie derart verbessert, dass sich die früher immer noch wahrnehmbare Grenze zwischen künstlich produziertem Bild und dem Abbild eines realen Objektes aufgelöst hat. Diese, in der Fachsprache als „Rendering“ bezeichneten Computerbilder, lassen sich in der Qualität oftmals von Photographien nicht mehr unterscheiden.
Wie die Zeuxislegende belegt, wurde die Überlistung des Wahrnehmungsapparates des Menschen durch die virtuose Beherrschung der künstlerischen Mittel bereits in der Antike erprobt und offenbar erfolgreich angewendet. In der Kunstgeschichte wird der französische Begriff „Trompe-l’œil“ für illusionistische Gemälde verwendet, die das Auge täuschen, indem sie den Schein von Räumlichkeit vorgeben. Wird eine solche Malerei im Inneren eines Gebäudes verwendet, um etwa durch eine perspektivische Gestaltung auf einer flachen Decke den Eindruck einer Kuppel oder eines Gewölbes zu vermitteln – wie es im Barock oft der Fall war –, spricht man von Scheinarchitektur. Solche Scheinarchitekturen erweitern auf optische Weise den realen Raum und verblüffen durch ihre räumlich-illusionistische Wirkung auf der zweidimensionalen ebenen oder gekrümmten Fläche. Auch für das Theater wurde neben Bauten auch auf malerische Gestaltungen zurückgegriffen, um mit optischen Tricks künstlich Bühnenraum zu schaffen. Bei allen diesen Beispielen war aber, wenn auch oft nur auf den zweiten Blick, immer der Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit erkennbar, die Augentäuschung hatte ihre Grenzen.
In der virtuellen Welt ist der Schritt von einer Augentäuschung – die ja noch am real vorhandenen Objekt nachvollzogen werden kann – zur missbräuchlichen Verwendung eines digitalen Bildes nicht mehr weit. Der Architekt Antonino Cardillo konnte dieser Verlockung nicht widerstehen, aber es ist ganz offensichtlich gefährlich, Architekturmagazine mit Bildern zu „betrügen“ die vorgeben, Abbild von irgendetwas zu sein. So ist der oben erwähnte Spiegel-Artikel mit „Hochstapler“ übertitelt, Cardillo wird mit Thomas Manns Romanfigur Felix Krull verglichen und es ist die Rede von der „Geschichte einer beinahe gelungenen Inszenierung“. Der solchermaßen überführte Cardillo gibt sich dann auch reumütig, wenn er sagt, dass er „kein ganz gutes Gefühl“ bei der ganzen Sache habe.
Die verfrühten Lobeshymnen auf einen scheinbar aufstrebenden jungen „Star“ belegen wohl vor allem die Jagd der Fachmagazine nach dem nächsten Idol, das es zu feiern gilt. Es ist aber auch die Jagd nach dem perfekten Bild, die offenbar jegliche journalistische Recherche hintanstellt, und schließlich sowohl für den Architekten als auch für das Fachblatt in peinliche Enthüllungen mündet. Die einmal von einer Fachzeitschrift veröffentlichten und somit „geadelten“ Bilder werden von anderen kritiklos übernommen und finden im Internet rasend schnell weltweite Verbreitung: Es entsteht ein Hype. Auch im Falle Cardillo spielte das Internet eine zentrale Rolle. „Es waren selten persönliche Kontakte. Vieles ging übers Internet, über Chats“, beschreibt der Architekt seine Kontakte zu den Redaktionen der Zeitschriften. Es hätte aber auffallen können, dass alle „Photographien“, die er präsentierte, immer von ihm selbst stammten. Auch konnte Cardillo nie Namen der Auftraggeber nennen, eine Verschwiegenheit, die mit dem Verweis darauf, dass es sich um Privathäuser handelt, gerechtfertigt schien und unhinterfragt blieb. Der österreichische Architekt und Publizist Peter Reischer entlarvte schließlich diese angeblichen Photographien als lediglich digitale Entwürfe von Gebäuden.
Zu bemerken ist, dass nicht das Bild selber das Problem darstellt, sondern die Betitelung des Bildobjektes als etwas anderes, das es tatsächlich ist. Die korrekte Bezeichnung der Bilder mit „Entwurf“ hätte zu keinerlei Verwirrung geführt, aber vermutlich die Veröffentlichung in Fachzeitschriften verhindert. Diese Diskrepanz zwischen Bild und Bildlegende, die als Einheit zusammengehören und in diesem Fall vom Bildautor geschaffen wurde, führt den historisch geschulten Beobachter direkt zum wichtigen Gebiet der Quellenkritik in den Geschichtswissenschaften. Neben schriftlichen Quellen und mündlichen Überlieferungen gelten auch Bilder als Quellenmaterial, auch wenn für den Historiker – zumindest bis vor wenigen Jahrzehnten – das Bild gegenüber der Schrift als weniger wichtig und interessant erachtet wurde. Das gilt nicht für den Kunsthistoriker, der sich schon immer mit den bildhaften Überlieferungen auseinandersetzte. Der Quellenwert von Bildern scheint sich aber auch zunehmend für den Historiker zu erhöhen, wie der britische Kulturhistoriker Peter Burke in seinem Werk „Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen“ zu belegen versucht. In seiner Einleitung zu diesem Buch vergisst Burke dann auch nicht, auf die ideologischen Gefahren der Geschichtsschreibung und -rezeption hinzuweisen, indem er seinen Kollegen Edward H. Carr zitiert: „Studiere den Historiker, ehe du anfängst, die Fakten zu studieren.“ In Analogie folgert er: „Entsprechend könnte man jedem, der das Zeugnis von Bildern verwenden möchte, den Rat geben, er möge zunächst einmal die verschiedenen Absichten der jeweiligen Bildproduzenten untersuchen.“ Eine einfache und klare Feststellung, die im hier behandelten Fall nicht befolgt wurde.
Die Quellenkritik fragt allgemein nach der Qualität und der Vertrauenswürdigkeit einer Quelle sowie danach, ob diese die benötigten Informationen in ausreichendem Maße liefern kann. Sie stellt die Frage nach der Korrektheit der Daten einer Quelle, nach ihrer Plausibilität und prüft sie auf Widersprüche. Die Verwendung des Internets für wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Arbeiten erfordert ebenfalls eine spezielle Internetkritik, die sich teilweise mit der klassischen Quellenkritik deckt. Eine Bildkritik sollte auf alle Arten von Bildern angewendet werden, darunter auch digitale Bilder. Gerade dieser Fall lehrt: Wenn den digitalen Bildern selbst nicht mehr zu trauen ist, dann müssen umso mehr die Angaben zu diesen geprüft werden. Erst die Schlüssigkeit der Beziehung von Bild zu Bildangaben oder Bildlegende können als sichere Informationen gelten.
Obwohl dem Architekten die ganze Sache unangenehm ist, rechtfertigt er sein Verhalten mit dem Verweis auf die Bedeutung von virtueller und ungebauter Architektur für die Architekturgeschichte. So sagt er: „Warum soll eine Idee verloren gehen, bloß weil kein Auftraggeber da ist?“ Dies könnte auch die Argumentation eines utopisch entwerfenden Architekten sein, der bewusst ohne Auftraggeber arbeitet und seine Entwürfe als Utopie versteht. Tatsächlich hat Cardillo hier im Kern Recht, denn wie auch dieser Aufsatz zeigen wollte, können Bilder von unrealiserten und utopischen Architekturen zum festen Bestandteil der Architekturgeschichte werden und diese nicht unwesentlich beeinflussen. Der Unterschied zu Cardillo liegt aber in der wichtigen Tatsache, dass diese Utopien auch als solche deklariert sind.
Antonino Cardillo, House of Convexities, Barcelona, 2008.
Endnoten
- ^ Ernst H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung (Berlin: Phaidon, 2002), p. 172 f.
- ^ Ibid., p. 172.
- ^ Abb.4, in Der Spiegel, 27/2.7.2012, p. 123.
- ^ Susanne Beyer, ‘Römische Ruinen’, in Der Spiegel, 27, 2.7. 2012, p. 121ff.
- ^ Ibid., p. 121-123.
- ^ Ibid., p. 123. (wie Anm. 4).
- ^ Cardillo, zit. nach Beyer, p. 122. (wie Anm. 4).
- ^ Gabriele Detterer, ‘Phantasie und Wirklichkeit: Digitale Bilder in der Architektur’, in Neue Zürcher Zeitung, Kunst und Architektur, 18.7.2012, URL: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/kunst_architektur/phantasie-und-wirklichkeit-1.17360051# (accessed 13-05-14).
- ^ Edward H. Carr, zit. nach Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, aus dem Englischen von Matthias Wolf (Berlin: Wagenbach, 2010), p. 19.
- ^ Ibid., p. 19
- ^ Vgl. Artikel ‘Quellenkritik’, Geschichte online, Literatur und Informationsrecherche, URL http://gonline.univie.ac.at/htdocs/site/browse.php?a=2649&arttyp=k (30.07. 2012)
- ^ Detterer (wie Anm. 8)
- ^ Cardillo, zit. nach Beyer, p. 123. (wie Anm. 4).