Hausmitteilung
Der Spiegel
Moderne Architektur ist ohne Computerprogramme kaum denkbar, Architekten entwerfen Bauten am Bildschirm und reichen animierte Darstellungen ihrer Projekte zu Wettbewerben ein. Dass Fiktion und Realität kaum noch unterscheidbar sind, machte sich der junge italienische Architekt Antonino Cardillo zunutze. Der Spiegel erfuhr, dass Cardillo Bilder von angeblich gebauten Gebäuden an Architektur zeitschriften versandt und den Anschein erweckt hatte, die Häuser seien tatsächlich gebaut worden. Doch diese existierten nur virtuell. Einige Fachmagazine fielen auf den Trick herein und druckten die Animationen. Redakteurin Susanne Beyer besuchte Cardillo in Rom und nahm die Beichte ab. „Ja“, das habe er getan, gestand der Architekt, er habe keine andere Möglichkeit gesehen, bekannt zu werden. Lug und Trug wurden zunächst belohnt: Die Zeitschrift „Wallpaper“ setzte Cardillo vor drei Jahren auf ihre Liste der 30 wichtigsten jungen Architekten der Welt.
Cardillo, Beyer in Rom, Hausmitteilung, Der Spiegel, Nr. 27/2012.
Römische Ruinen
Susanne Beyer
Ein junger italienischer Architekt wird in internationalen Magazinen für seine Bauwerke gerühmt. Das war verfrüht. Die Geschichte einer beinahe gelungenen Inszenierung.
Als Felix Krull jung war, dachte er lange darüber nach, ob er die Welt klein oder groß sehen solle. Seiner „Natur gemäß“ habe er dann in seinem späteren Leben „die Welt für eine große und unendlich verlockende Erscheinung geachtet“. Er wurde der glücklichste Hochstapler der Literaturgeschichte. Thomas Manns Roman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ ist auch eine Persiflage auf das Künstlertum. Denn der Künstler, so dachte Mann, ist stets auch ein Aufschneider. Sein Talent – erst mal nur eine Behauptung.
Felix Krull war höflich, charmant und elegant. Und, ja, auch das: wunderschön. Frauen und Männer erlagen ihm, sie genossen es, von ihm betrogen zu werden. Und wie sein Vater, der Fabrikant der Sektmarke „Loreley Extra Cuvée“, lag Felix Krull gern weich, seine Welt war die der „luftigen Vorhänge“ und der Türglocke, die „Freut euch des Lebens“ spielte. Felix Krull ist Leichtigkeit.
Doch Thomas Mann fiel es schwer, den glücklichen Krull zu erfinden. 50 Jahre arbeitete er an dem Roman, der dann unvollendet blieb. Manchmal sperrt sich die Literatur. Und manchmal ist die Wirklichkeit erfinderischer.
Der Architekt Antonino Cardillo wurde vor drei Jahren von „Wallpaper“, einem führenden Magazin für Architektur und Design, zu einem der 30 wichtigsten jungen Architekten weltweit gekürt.
Seitdem ist er auch in anderen Zeitschriften häufig groß zu sehen. Das Architektenmagazin „build“ sprach mit ihm und erkundigte sich, ob es schwierig sei, mit Klienten über „die Qualitäten zukünftigen Designs zu kommunizieren“. „Houses“ stellte Cardillos Bauwerk „Ellipse 1501“ vor: „Fertigstellung 2007“: „In der Nähe eines felsigen Hügels erscheint hinter einem Pinienwald ein turmartiges Haus.“ So ein Talent möchte man kennenlernen.
Wer sich im Internet auf die Suche nach dem begabten Herrn Cardillo macht, findet seine Homepage. Dort steht, er sei auf Sizilien geboren. Er habe in London unterrichtet, am Chelsea College of Art and Design. Er arbeite mit dem Victoria and Albert Museum in London zusammen. Es ist auch ein Porträtfoto von ihm zu sehen, ein schöner Mann, Mitte 30. „Weltweit aktiv“, ist zu lesen.
Und viele Häuser präsentiert Herr Cardillo auf dieser Homepage, gelungen, expressiv, imposant. Ein paar, so ist dort angegeben, stehen in Italien und andere in Spanien oder Australien. Nur die Auftraggeber bleiben geheim, natürlich, es sind Privathäuser. Der Fotograf all dieser hochauflösenden Bilder ist immer derselbe: der begabte Herr Cardillo.
Cardillos Spuren in der Wirklichkeit zu verfolgen ist nicht ganz einfach. Wer sich in einer E-Mail beim Chelsea College of Art and Design in London nach seiner Lehrtätigkeit erkundigt, bekommt eine freundliche Antwort. „Wir haben niemanden, der sich an ihn erinnert. Hier unterrichten aber viele Dozenten, einige bleiben nur für wenige Stunden. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie Antonino Cardillo direkt kontaktieren?“
Eine ausgezeichnete Idee. Seine E-Mail-Adresse steht auf seiner Website. Ob er bereit sei, ein Interview zu geben über sich und seine Arbeit? Die Antwort kommt 23 Minuten später: „Ja“. Ob man ihn dafür in Rom besuchen dürfe, in seinem Büro? Wieder ist er schnell: Ein Büro im eigentlichen Sinne habe er nicht, aber ein Treffen in einem Café gegenüber vom Kolosseum sei möglich.
Ein paar Tage später schreibt er noch einmal: Er habe in Rom eine Wohnung für einen Freund gestaltet, der Freund habe ihm angeboten, das Interview dort zu führen.
Bei anderen „weltweit tätigen“ Architekten Termine zu bekommen ist schwieriger. Assistenten antworten. Cardillo schreibt selbst, unkompliziert und nett.
Die Wohnung liegt oberhalb des Viertels Trastevere auf einem Hügel. Antonino Cardillo öffnet die Tür, wie angenehm, keine Assistenten, die ständig unterbrechen. Cardillo sieht wirklich phantastisch aus, die Augen blicken melancholisch. Er bittet in die Wohnung, höflich, ein kleines Nicken mit dem Kopf.
Zwei winzige Räume, Küche und Bad. Der schöne Herr Cardillo bietet einen Rundgang an, natürlich gern, es dauert ja nicht lange.
Viele Wände seien zugleich Schränke – tatsächlich. An einem Schrank im Schlafzimmer sind statt Griffen Kordeln angebracht. Cardillo sagt, das Neue und das Alte kämen in dieser Wohnung „sensa drama“, ohne Spannung, zusammen. Besonders nachgedacht habe er über Licht und Schatten. Er zeigt auf die Neonröhren. Die Neonröhren machen Neonlicht. Außergewöhnlich. Sie kosten 9 Euro das Stück im Baumarkt.
Er bittet ins Wohnzimmer. Dort steht ein nett lackierter Tapetentisch in Blau. Herr Cardillo spricht leise, aber er ist sich sicher mit dem, was er sagt.
Am wichtigsten sei ihm die Architekturgeschichte, betont er. Beim Bauen aber würde er niemals explizit aus vergangenen Epochen zitieren, wie es die Architekten der Postmoderne gemacht hätten, es müssten abstrakte Zitate sein, mit Lichthöfen zum Beispiel sei es möglich, auf das Barock hinzuweisen. Die Ästhetik der Postmoderne, erklärt er weiter, halte er für verfehlt, auch die Entwicklung anderer Architekten, etwa die des Dekonstruktivisten Frank O. Gehry, enttäusche ihn. In den achtziger Jahren habe der noch großartige skulpturale Gebäude entworfen, dann zu viele Leute eingestellt, seine Architektur sei nun austauschbar.
Es ist angenehm, Herrn Cardillo, der niemanden eingestellt hat, zuzuhören. Eine Neonröhre flackert, vielleicht muss man sie bald austauschen. Das Wohnzimmer hier ist hübsch, aber klein. Die Häuser des Herrn Cardillo im Internet wirken anders. Weit, hoch, erhaben.
Die Zeitschrift „H.O.M.E.“ druckte einen elf Seiten langen Artikel über einen dieser Prachtbauten. Ein „Haus wie ein Tanz“, heißt es dort, „umgeben von Feldern“. „Der junge italienische Architekt Antonino Cardillo baute bei Barcelona das House of Convexities“ – „Flamenco in Stein“.
Auch in diesem Artikel wird das Aussehen des Architekten erwähnt: „extrem gut“. Der Name des Bauherrn ist nicht genannt, aber es ist zu erfahren, dass er Komponist sei – „mit einem sehr großen Interesse an mediterraner Musik“.
Hier in der Wohnung in Rom läuft auch leise Musik. Irgendwann ist eine Stunde vorbei. Nun kommt die nächste Frage. Herr Cardillo schaut auf die Tischplatte.
„Auf Ihrer Homepage lässt sich schwer unterscheiden, welches Ihrer Projekte wirklich umgesetzt wurde?“
Cardillo trinkt einen Schluck Wasser. Er schaut weiter auf die Tischplatte. Dann lächelt er und sagt: „Ich bin vorgegangen wie die Suprematisten, die Futuristen. Wissen Sie, ich kam hier nach Rom und hatte keine Kontakte, ich wollte aber meine Ideen umsetzen.“ Antonino Cardillo zögert jetzt. Es ist das erste Mal. Er sieht vom Tisch auf. Es ist heiß, die Hitze der Stadt ist auch hier auf dem Hügel zu spüren. Dann sagt er es: „Also, es gibt diese Häuser nicht. Nur eines in Japan. Aber die anderen sind Computerbilder.“
Herr Cardillo, wie kommt es, dass in den Zeitschriften der Eindruck entsteht, die Häuser gebe es wirklich?
„Ich habe es glauben lassen. Es waren selten persönliche Kontakte. Vieles ging übers Internet, über Chats. Und, ja, ich habe Informationen zum Teil erfunden. Zeitschriften wollen Projekte veröffentlichen, die verwirklicht sind. Ich wollte trotzdem zeigen, wie ich mir Häuser vorstelle. Warum soll eine Idee verlorengehen, bloß weil kein Auftraggeber da ist?“
Er hätte sich doch an Wettbewerben beteiligen können.
„Ohne Beziehungen?“, fragt er. „Und wenn es mir gelungen wäre, dann wären Kompromisse herausgekommen.“
Er habe, führt er fort, kein ganz gutes Gefühl bei all dem.
„Sehen Sie es einfach wie eine literarische Erzählung“, sagt Herr Cardillo jetzt, „ein Märchen. Da ist es auch nicht wichtig, dass die Dinge tatsächlich passiert sind. Es ist wichtig, eine Idee in die Welt zu bringen. Und es hat funktioniert, inzwischen bekomme ich Aufträge. Das Haus in Japan, das Geschäft in Mailand von Sergio Rossi, das Sie auf meiner Homepage sehen, das gibt es wirklich.“
Aber wovon hat er während all der Jahre gelebt?
Darauf antwortet er nicht, er spricht stattdessen wieder viel über die Moderne, den Futurismus, die Postmoderne.
Von irgendetwas muss er doch gelebt haben? Cardillo lächelt wieder. Jetzt geht es schnell, er wirkt fast erleichtert. „Ich habe Doktorarbeiten geschrieben.“ Er schränkt ein: „Ich habe anderen Leuten geholfen, Doktorarbeiten zu schreiben.“
Nach dem Geständnis ist Cardillo erschöpft. Es ist Abend. Er hat zwei Stunden geredet. Er macht das Licht aus in der fremden Wohnung, bricht auf, hinunter in die Stadt. Der Dichter Friedrich Hebbel schrieb über Rom: „Beim Dämmerlicht des Mondes schau ich gerne / der grauen Weltstadt bröckelnde Ruinen / die uns als Maß für ihre Größe dienen, / woran der Mensch sich selber messen lerne.“
Thomas Mann hat sich Felix Krull als Narziss vorgestellt, der die Spiegelungen seiner selbst sucht und Kränkungen durch die Konfrontation mit der Wirklichkeit meidet. Antonino Cardillo sagt über sich, dass die Häuser, mit denen er sich selbst beauftragte, in einiger Hinsicht Spiegelungen seien. Einmal, als er sich die Bilder anschaute, habe er einen Schreck bekommen. „Als schaute ich in meinen eigenen Abgrund.“